Diplomacy
Schweden in der NATO: Hat die Neutralität eine Zukunft?
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First Published in: Mar.01,2024
May.10, 2024
Schweden und Finnland haben jahrzehntelang die erfolgreiche Neutralität in den internationalen Beziehungen verkörpert. Bedeutet ihr Beitritt zur NATO, dass die Politik der Neutralität in der modernen Welt keine Zukunft mehr hat? Schweden wird das 32. Mitglied der Nordatlantischen Allianz. Mitglied des Nordatlantikbündnisses. Wie wir vor einigen Wochen vorausgesagt haben, hat das ungarische Parlament das Beitrittsprotokoll des skandinavischen Königreichs relativ schnell ratifiziert und damit das letzte Hindernis für dessen offizielle NATO-Mitgliedschaft beseitigt. Damit endet die fast zweijährige Geschichte der Bündniserweiterung in Nordeuropa, von der ursprünglich eine viel schnellere Entwicklung erwartet worden war.
Von den 30 Mitgliedstaaten, die der NATO angehörten, als Schweden und Finnland im Mai 2022 ihre Anträge einreichten, haben 28 die innerstaatlichen Verfahren zur Ratifizierung der Beitrittsprotokolle in einem Tick durchgeführt. Aber zwei Länder - die Türkei und Ungarn - hatten Fragen an die Kandidaten. Ankara erklärte insbesondere, dass es unmöglich sei, mit Ländern, die zu "Gasthäusern für Terroristen" geworden seien, verbündete Beziehungen zu unterhalten und Sanktionen gegen Türkiye zu verhängen. Dies bezog sich in erster Linie auf die Politik Stockholms, so dass Finnland dem Bündnis im März 2023 beitrat, während Schweden im "Wartesaal" blieb. Nach zwanzigmonatigen Verhandlungen und einer Reihe von Zugeständnissen seitens Schwedens selbst sowie der USA, die sich bereit erklärten, die Blockade des Verkaufs von F-16-Kampfjets an die Türkei aufzuheben, beschloss das türkische Parlament am 23. Januar einen positiven Beschluss über Stockholms Antrag. Danach stand Schweden vor dem letzten Hindernis - der fehlenden Ratifizierung durch Ungarn. In Budapest erwartete man von Stockholm, wie es der Sprecher des ungarischen Parlaments ausdrückte, "etwas Respekt" zu zeigen und zu beweisen, dass es "Ungarn ernst nimmt". In den letzten Wochen drehte sich das Drama um die Frage, ob der schwedische Ministerpräsident Ulf Kristersson die Einladung seines ungarischen Amtskollegen Viktor Orban annehmen wird, Budapest zu besuchen und alle Ungarn betreffenden Fragen persönlich zu besprechen. Die schwedische Regierung reagierte zunächst scharf und unmissverständlich darauf, dass ihr Chef nichts mit Orban zu besprechen habe, zumindest solange es keine positive Entscheidung über die Aufnahme des Königreichs in die NATO gebe. Schließlich flog Kristersson aber doch am 23. Februar nach Budapest. Nach den Verhandlungen erklärte Viktor Orban, dass die im Bereich der militärisch-technischen Zusammenarbeit erzielten Vereinbarungen "zur Wiederherstellung des Vertrauens zwischen den beiden Ländern beitragen". Insbesondere wurde eine Vereinbarung über den Kauf von vier neuen Gripen-Kampfflugzeugen durch Ungarn und eine zehnjährige Verlängerung des Wartungsdienstes für 14 schwedische Kampfflugzeuge, die sich bereits in der ungarischen Luftwaffe befinden, getroffen. Drei Tage später, am 26. Februar, ratifizierte das ungarische Parlament das Protokoll über den Beitritt Schwedens zur NATO: 188 Abgeordnete stimmten dafür und nur 6 dagegen. Die Befürworter der nordeuropäischen Erweiterung des Bündnisses können also beruhigt aufatmen. In wenigen Tagen wird die schwedische Flaggenhissung im NATO-Hauptquartier in Brüssel erwartet. Sie wird einen Schlussstrich unter Stockholms zweihundertjährige Nichtanbindung an Militärblöcke ziehen, eine Zeit, in der Schweden zu einem der bekanntesten Vertreter des Neutralitätsgedankens geworden ist.
Die Entscheidung Schwedens, seine Politik der Blockfreiheit zu beenden, kann, wie bereits erwähnt, kaum als völlig spontan und als Bruch mit allen Grundlagen und Tendenzen der vergangenen Jahrzehnte bezeichnet werden. In der Tat wurde sie unter den außergewöhnlichen Bedingungen des öffentlichen Schocks nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine getroffen, aber Stockholm hat sich seit langem langsam darauf zubewegt. Es ist wichtig, dies zu wissen und zu verstehen, denn vor dem Hintergrund der nordeuropäischen NATO-Erweiterung in den Jahren 2023-2024 stellen sich natürlich mehrere Fragen zur Bedeutung dieses Ereignisses im breiteren internationalen Kontext. Zum Beispiel: Was bedeutet der Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO für die Konzepte der Neutralität und der Blockfreiheit? Sind die Entscheidungen von Stockholm und Helsinki Indikatoren dafür, dass der Platz für Neutralität in der heutigen Welt schrumpft? Und sollten Staaten, die sich noch außerhalb von politisch-militärischen Blöcken befinden, sich das Beispiel Schwedens und Finnlands genau ansehen und ihm vielleicht folgen? Diese Fragen sind nicht nur theoretisch. Unmittelbar nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten in der Ukraine und der Verhängung der ersten antirussischen Sanktionen war sowohl in den Medien als auch von hohen politischen Tribünen die These zu hören, dass in der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen über die Ukraine kein Platz für Neutralität ist. Zumindest haben Kiew selbst und seine westlichen Partner ihre Position auf diese Weise formuliert. Die Erklärung dafür ist einfach: Russlands Vorgehen, so betonen sie, sei als eklatanter Verstoß gegen die UN-Charta zu werten, was bedeute, dass jede Form der neutralen Haltung gegenüber dem Konflikt diese Verstöße fördern würde und daher unmoralisch und illegitim sei. Ausgehend von dieser Logik forderten sie die Nationen der Welt auf, das Vorgehen Moskaus zu verurteilen und sich dem westlichen Sanktionsregime anzuschließen. Da nicht alle Länder bereit waren, in einem Konflikt, den sie nicht als ihren eigenen betrachten, Partei zu ergreifen, setzten die Ukraine und der Westen erwartungsgemäß (aber mit unterschiedlichem Erfolg) verschiedene Instrumente der Überzeugung und des Drucks ein. Dies lässt sich deutlich an der Dynamik der Abstimmung über kriegsbezogene Resolutionen in der UN-Generalversammlung ablesen. Generell ist die These "Kein Land für Neutrale" so alt wie die Welt. Besonders laut wird sie immer in der Anfangsphase großer geopolitischer und militärischer Konfrontationen. Dies war beispielsweise in den Anfangsjahren des Kalten Krieges der Fall, als die Position traditionell neutraler Staaten und die Neutralitätsbestrebungen von Ländern wie Jugoslawien sowohl im Kreml als auch im Weißen Haus eine scharfe Reaktion hervorriefen. Beide hielten sie nicht nur für schädlich im Kampf gegen ideologische Feinde, sondern auch für zutiefst unmoralisch. Heute ist es für kleine Staaten wieder schwierig, die Wichtigkeit einer neutralen Politik mit ihren historischen Traditionen oder gar ihrem Wunsch, zur Lösung von Konflikten beizutragen, zu begründen, ganz zu schweigen von ihren eigenen Interessen, die nicht unbedingt mit denen der Konfliktparteien übereinstimmen. Der Fall der Schweiz ist beispielhaft. Schon mit bloßem Auge kann man erkennen, wie schwierig es für Bern ist, seine natürliche Neutralitätspolitik umzusetzen, die im Gegensatz zu Schweden weder während des Kalten Krieges noch nach dessen Ende einer signifikanten Erosion unterworfen war. Einerseits steht die Schweiz unter enormem Druck des Westens, andererseits - etwas anders, aber ebenfalls - unter dem Druck Moskaus, das die Schweiz schnell zu den unfreundlichen Staaten zählt, weil sie sich einigen der EU-Sanktionen angeschlossen hat. Bezeichnenderweise schlug der damalige Aussenminister und Bundespräsident Ignazio Cassis Mitte 2022 sogar vor, einen neuen Neutralitätsbegriff gesetzlich zu verankern. Die Idee war, die klassische Schweizer Neutralität in eine "kooperative Neutralität" umzuwandeln. Was der neue Begriff genau bedeuten sollte, blieb jedoch ein Rätsel (auch wenn es der Name schon mehr oder weniger deutlich macht), denn die Mitglieder des Bundesrates lehnten den Vorschlag ab. Aber allein die Tatsache, dass eine solche Initiative zustande kam, ist ein gutes Beispiel für die Herausforderungen, denen sich neutrale Staaten heute stellen müssen.
Die Cassis-Initiative legt auch nahe, dass neutrale Staaten ihre Politik nicht ohne weiteres aufgeben werden, wenn sie diese unter den spezifischen strukturellen Bedingungen, die ihr sicherheitspolitisches Umfeld bestimmen, für optimal halten. Zwar werden sie sich auf veränderte Umstände einstellen und ihre aussenpolitische Positionierung entsprechend anpassen, denn im Gegensatz zu Grossmächten können Kleinstaaten ihr sicherheitspolitisches Umfeld nicht selbständig gestalten und sind per Definition gezwungen, sich anzupassen, nach vagen Formulierungen zu suchen und zu manövrieren. Aber sie werden nicht einfach eine Politik aufgeben, die sich über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte bewährt hat. Das heißt, das nationale Interesse dieser Länder steht nach wie vor im Mittelpunkt und nicht der Druck, die Wünsche und die Appelle an die Moral der Teilnehmer an bestimmten Konflikten, selbst wenn es sich um Großmächte handelt. Darin unterscheiden sich die Fälle Schwedens und Finnlands von denen der Schweiz, Österreichs, Maltas, Irlands und anderer Länder, die weiterhin an der Neutralität und/oder der Nichtanpassung festhalten: Sie definieren ihr nationales Interesse unter den spezifischen geopolitischen Bedingungen, die sich hier und heute entwickeln, auf grundlegend andere Weise. Zugleich gilt in den internationalen Beziehungen immer eine einfache Regel. Je kompromissloser und härter die Konfrontation zwischen den Hauptakteuren wird, desto weniger Möglichkeiten und Handlungsspielraum haben neutrale Staaten. In Europa sind die Zeiten für die Neutralen daher in der Tat sehr hart. In einigen anderen Teilen der Welt sind die strukturellen Bedingungen jedoch anders, und die Anreize für eine bündnisfreie Politik nehmen in vielen Ländern im Gegenteil sogar noch zu. Indien ist dafür ein anschauliches Beispiel. Es ist heute überall ein gern gesehener Gast, und die wichtigsten geopolitischen Gegenspieler wetteifern förmlich darum, Delhi zur Zusammenarbeit einzuladen. In einer solchen Situation ist es ganz natürlich, dass Indien mit Hilfe einer neutralen Positionierung den ganzen Rahm abschöpft, was es auch erfolgreich tut. Die europäischen Neutralen hingegen müssen nun um das Recht kämpfen, möglichst viele Elemente der Politik der Blockfreiheit beizubehalten und hoffen, dass ihre Position bald wieder gefragt sein wird. In diesem Prozess entwickeln sich die Formen und Methoden der Neutralität unweigerlich weiter. Einer der führenden Theoretiker der Neutralität, der österreichische Professor Heinz Gärtner, schätzt, dass es mehr als 20 verschiedene Arten von Neutralitätspolitik gibt. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Liste im Laufe der Zeit noch wachsen wird. Von den legalistischen Formen, die in den Haager Konventionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verankert wurden, wird sich die Neutralität immer weiter in Richtung politischer Mischformen wie dem Hedging entwickeln. Wichtig ist, dass in jedem Fall eine neutralistische Politik, egal welche Formen sie gelegentlich annimmt, immer einen Platz in den internationalen Beziehungen haben wird. Insbesondere angesichts des erreichten Globalisierungsgrades, der die moderne Welt von den Realitäten des Kalten Krieges unterscheidet. Die Großmächte, die sich gegenüberstehen, werden schließlich selbst ein Interesse an Verbindungen in Form von neutralen und bündnisfreien Staaten haben. Darüber hinaus wären ohne neutrale Staaten und nichtstaatliche Akteure viele für die internationalen Beziehungen grundlegende Praktiken nicht möglich. So ist beispielsweise die vollständige Umsetzung des humanitären Völkerrechts ohne sie nur schwer vorstellbar.
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Yauheni Preherman ist Gründer und Direktor des Minsk Dialogue Council on International Relations. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Außenpolitik kleiner Staaten, internationale Angelegenheiten in Osteuropa sowie die euroatlantische und eurasische Sicherheit. Yauheni schreibt regelmäßig Beiträge für den Eurasia Daily Monitor der Jamestown Foundation (USA), den Valdai Discussion Club (Russland), Global Brief (Kanada), den European Council on Foreign Relations und andere belarussische und internationale Publikationen. Seine Artikel und Kommentare erschienen in Foreign Affairs, Foreign Policy, Kommersant, Vedomosti, Izvestiya, The New York Times, The Washington Post, The Wall Street Journal, The Guardian, HuffPost, El Pais, Politico, The Moscow Times und anderen Publikationen . Yauheni ist Mitglied mehrerer Berufs- und Alumni-Netzwerke, darunter des Younger Generation Leaders Network on Euro-Atlantic Security (YGLN), der Collective Security Initiative, des Chevening-Alumni-Netzwerks und der British International Studies Association (BISA). Er ist außerdem Mitglied des Beirats des International Institute for Peace (Österreich) und Mitglied des Expertenrats der Cyber Industry Association (Weißrussland). Yauheni hat einen BA in Internationalen Beziehungen von der Belarussischen Staatsuniversität, einen MA in Europäischer Politik von der Sussex University (Großbritannien) und einen Doktortitel in Politik und Internationalen Studien von der Warwick University (Großbritannien). In seiner Doktorarbeit befasste er sich mit außenpolitischen Strategien kleiner Staaten, die zwischen Zentren geopolitischer Schwerkraft liegen und asymmetrische Beziehungen zu ihnen haben. Präherman entwickelte ein innovatives theoretisches Modell der außenpolitischen Absicherung und eine Erklärung seiner Ursachen und Grenzen für kleine Zwischenstaaten.
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