Diplomacy
Der binäre Diskurs 'Demokratien gegen Autokratien' ist gegen die Interessen Europas
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First Published in: Jul.08,2022
Apr.10, 2023
In diesen Tagen ist häufig zu lesen, dass die russische Invasion in der Ukraine die größte Bedrohung für die internationale liberale Ordnung darstellt. Viele Analysten sind sogar der Ansicht, dass der Krieg einen Wendepunkt in den internationalen Beziehungen darstellt. Dies ist teilweise richtig. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg setzt eine Großmacht ihre gesamte Kriegsmaschinerie ein, um einem kleineren und schwächeren Nachbarn ein Gebiet zu entreißen. Es ist auch wahr, dass wir seit der Kubakrise 1962, also vor 60 Jahren, noch nie so nahe an einem möglichen Atomkonflikt waren. Wir stehen also vor einem historischen Moment von enormer Bedeutung, dessen mittel- und langfristige Auswirkungen noch nicht abzusehen sind. Dieser Krieg in der Ukraine kann aber auch als Fortsetzung eines strukturellen Trends gesehen werden. Die internationale liberale Ordnung ist seit 20 Jahren am Zerbröckeln. Auf wirtschaftlicher Ebene könnte man den Beginn des Zusammenbruchs in das Jahr 2001 legen, als der "Meister" Alan Greenspan, Gouverneur der FED und oberster Verfechter des Laissez-faire, die Zinssätze auf 1 % senkte und damit massiv und mit den Mitteln der Öffentlichkeit in die Funktionsweise des Marktes eingriff und das neoliberale Projekt in seiner reinsten Form zunichtemachte. Politisch gesehen war das Jahr 2003 geprägt von der Katastrophe des völkerrechtswidrigen Irak-Kriegs (mit einem noch nie dagewesenen öffentlichen Aufschrei, bei dem Millionen auf den Straßen von Madrid, London und Rom protestierten) und den Skandalen von Abu Ghraib und Guantanamo. Und das war erst der Anfang. Dann kam die globale Finanzkrise von 2008, die den westlichen Kapitalismus und seine wichtigsten Zentren – die Wall Street und die Londoner City – in Verruf brachte, und die Euro-Krise, die zeigte, dass eine Währung mit einem gemeinsamen Markt, aber ohne eine politische Union, die ihn stützt, ein Widerspruch in sich ist. Die Doha-Runde der Welthandelsorganisation, die bereits am Boden lag, brach in dieser Zeit endgültig zusammen und zementierte die Vorstellung, dass die USA und Europa und ihre Verbündeten in der OECD wie Japan und Südkorea nicht mehr in der Lage waren, ihre liberale Agenda durchzusetzen. Neue aufstrebende Mächte wie China, Indien und Brasilien lehnten die Liberalisierung von Dienstleistungen ab, wenn die westlichen Mächte ihre heimischen Agrarsubventionen nicht abschafften, und – da sie dies nicht wollten – stagnierten der Handelsmultilateralismus und seine liberale Agenda auf globaler Ebene (obwohl es auf regionaler Ebene Fortschritte gab). Einer dieser Fortschritte sollte das Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen den USA und der EU sein, aber die Wut über den Freihandel in Europa und den USA war bereits beträchtlich, und zwischen Brexit und Trump fiel das gesamte Konstrukt auseinander. Darüber hinaus begann Trump eine protektionistische und unilaterale Politik der offenen Konfrontation mit China (und teilweise auch mit der EU), die – schon vor dem COVID – die Welt weder sehr geordnet noch liberal oder international machte, da bereits von einem neuen Kalten Krieg zwischen den USA und China die Rede war. So gesehen ist der Einmarsch Russlands in die Ukraine ein weiteres Kapitel im Zusammenbruch der internationalen Ordnung. Ein Zusammenbruch, der ein Produkt des strukturellen Niedergangs der USA als Hegemonialmacht ist. Die Kosten der Kriege im Irak und in Afghanistan haben die meisten Amerikaner gegen militärische Interventionen in anderen Teilen der Welt aufgebracht und Russland und China die Möglichkeit gegeben, ihren Einfluss in den jeweiligen Regionen zu vergrößern. Der Krieg in der Ukraine ist daher eine Folge des imperialistischen Eifers Putins, der nicht akzeptieren kann, dass die Ukraine in den Einflussbereich der EU und der USA fällt, aber auch des Versagens der USA (und der NATO insgesamt), den russischen Angriff abzuwehren. Im Nachhinein könnte Biden die offene Aussage, dass die USA keine Truppen zur Verteidigung der Ukraine entsenden würden, von Putin als Zeichen der Schwäche gedeutet worden sein, das ihn ermutigte, die Invasion anzuordnen. Vielleicht dachte er sogar, dass die USA und die EU mit der Verhängung von Wirtschaftssanktionen bluffen würden, was nicht der Fall war. Die Sanktionen waren zweifellos einschneidend, aber sie haben auch bestätigt, dass die internationale liberale Ordnung (falls sie jemals wirklich existierte) nun Geschichte ist. Aus dem Weißen Haus und einigen europäischen Hauptstädten wird behauptet, der Krieg zeige, dass wir es mit einem Wettbewerb oder gar einem Konflikt zwischen Demokratien auf der einen und Autokratien auf der anderen Seite zu tun haben. Man spricht auch von einem Kampf zwischen dem westlichen Block und dem Block, der aus Russland und China besteht, weil letzterer Putin zumindest moralisch unterstützt. Dieser binäre Diskurs ist jedoch falsch und kontraproduktiv. Erstens könnte man anstelle des Westens von einer "trans"-Allianz sprechen. Transatlantisch, weil der Krieg die USA und die EU wieder vereint hat, aber auch transpazifisch, weil Japan und Südkorea sowie Australien und Neuseeland ebenfalls Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Es ist nicht nur der Westen. Aber es gibt auch einen anderen Block, einen anderen großen Teil der Welt, der sich angesichts des Konflikts nicht positioniert hat und der den binären Diskurs von Demokratien gegen Autokratien ablehnt. Hier finden wir alle Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens, einschließlich der Mächte, die der G20 angehören, wie Brasilien, Südafrika und Indonesien, die zum jetzigen Zeitpunkt und aus verschiedenen Gründen nicht die Notwendigkeit sehen, eine klare Position in dem Konflikt einzunehmen, und es vorziehen, bündnisfrei zu bleiben. Russland bleibt, ob es uns nun gefällt oder nicht, eine Großmacht in der Welt. Viele Diplomaten aus diesen Ländern prangern im Übrigen die Doppelmoral und Heuchelei der westlichen Mächte an. Als die USA unrechtmäßig in den Irak einmarschierten, wurden sie nicht sanktioniert. Als der Krieg in Syrien Millionen von Flüchtlingen hervorgebracht hat, hat Europa seine Arme nicht geöffnet, so wie es das jetzt mit den Ukrainern tut. Die USA und die EU prangern ständig Chinas Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und Tibet an, haben aber kein Problem damit, Geschäfte mit den Golfstaaten zu machen, die repressive absolutistische Monarchien sind. Darüber hinaus sind viele Hauptstädte des "Globalen Südens" der Meinung, dass die Sanktionen gegen Russland die Preise für Weizen, Mais und viele andere Rohstoffe in die Höhe treiben und ihnen dadurch interne Probleme bereiten. Dies ist lediglich eine Halbwahrheit. Der Anstieg der Weizenpreise ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist und die Ausfuhr von Rohstoffen nicht zulässt. Aber in der gegenwärtigen globalen Diskussion wird der Westen als derjenige gesehen, der "Sanktionen verhängt" und andere beschimpft, weil sie diese nicht eingeführt haben (obwohl es in Wirklichkeit darum geht, Putin nicht zu helfen). Inmitten dieser diplomatischen Spannungen gibt es auch eine gewisse Unterströmung von Antikolonialismus und Schadenfreude. Ein Teil des globalen Südens hat das Gefühl, dass es sich um einen weiteren europäischen Krieg handelt und dass die Europäer ihn mit Hilfe ihrer amerikanischen Partner lösen müssen, und zwar je eher, desto besser. In einem solchen Kontext teilen nur wenige Staats- und Regierungschefs und Diplomaten im Globalen Süden diese binäre Sichtweise von Demokratien und Autokratien (weil viele von ihnen keine Demokratien sind) und werden sich folglich weiterhin von einem solchen diskursiven Rahmen distanzieren. Die meisten von ihnen wollen außerdem gute Beziehungen zu den USA und China und sehen eine Eskalation der Spannungen zwischen den beiden als negativ für ihre Interessen an (obwohl die geopolitische Rivalität zwischen ihnen dafür sorgt, dass sie sich absichern und beide Seiten spielen können). Ihre Haltung ist eher pragmatisch als ideologisch. Angesichts dieser Tatsache muss die EU klug vorgehen. Es könnte ein Fehler sein, sich in die binäre Vision der Biden-Administration einzukaufen (und das ist Paris ganz klar). Die EU muss ihre Werte und Interessen verteidigen, aber nicht mit einer negativen Agenda (indem sie anderen ihre Handlungen vorwirft) und schon gar nicht, indem sie an einer überholten liberalen internationalen Ordnung festhält. Wenn sie das tut, läuft sie Gefahr, vom Rest der Welt als verzweifeltes Festhalten an einem sterbenden Status quo angesehen zu werden. Die Agenda muss viel positiver und proaktiver sein. Die "Food and Agricultural Resilience Mission" (FARM) ist ein guter Anfang, aber sie muss weiterentwickelt werden. Generell ist eine neue Agenda für die globalisierte Welt, in der wir leben, erforderlich, aber diese Agenda muss auf neuen Rezepten basieren, die dem neuen Zeitgeist entsprechen. Dazu können wir unser eigenes Modell nicht anderen aufzwingen, wenn es selbst in unseren eigenen Gesellschaften stark in Frage gestellt wird. Zunächst müssen wir die interne Situation in unseren eigenen Ländern verbessern, um dann einen liberalen Multilateralismus schaffen zu können. Nur muss dieser Multilateralismus sozialer (das ist es, was unsere Gesellschaften fordern) und grüner (die Menschheit ist darauf angewiesen) sein, und er darf nicht auf dem Prinzip "wir gegen sie" beruhen, denn das wird zu mehr Konfrontation und weniger Verständnis führen, was gerade vermieden werden soll.
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Miguel Otero-Iglesias ist Senior Analyst am Elcano Royal Institute und Professor an der IE School of Global and Public Affairs. Außerdem ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am EU-Asien-Institut der ESSCA School of Management in Frankreich. Zuvor war er Assistenzprofessor für Internationale Politische Ökonomie (IPE) an der ESSCA in Paris, Lehrbeauftragter am Queen Elisabeth House der Universität Oxford, Postdoc-Forschungsstipendiat an der LSE und außerordentlicher Dozent an der Oxford Brookes University, wo er in IPE promovierte. Er besitzt außerdem einen MA in IPE von der Universität Manchester. Er war Gastwissenschaftler am Institut für Internationale Beziehungen (Pontificia Universidade Catolica - PUC von Rio de Janeiro), am Institut für Weltwirtschaft und Politik (IWEP) der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften in Peking, am Mercator-Institut für China-Studien (MERICS) in Berlin und am College of Business der Alfaisal-Universität in Riad. Er ist Mitbegründer und Koordinator des European Think Tank Network of China (ETNC).
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