Defense & Security
Wie die EU den Ukrainekrieg zum Ausbau ihres Grenzregimes benutzt
Image Source : Shutterstock
Subscribe to our weekly newsletters for free
If you want to subscribe to World & New World Newsletter, please enter
your e-mail
Defense & Security
Image Source : Shutterstock
First Published in: Jun.14,2023
Jul.24, 2023
CC BY-NC-ND 3.0 - Translated by World And New World Journal. The original English article can be found here.
Seit dem vollständigen Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 wurden mehr als 13 Millionen Menschen gewaltsam vertrieben, was der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen als "die am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg" bezeichnete. Die EU und ihre Mitgliedstaaten brachen mit ihrer Abschreckungspolitik und den Versuchen, Asylbewerber:innen noch vor der EU-Grenze abzufangen. Stattdessen schufen sie rechtliche Strukturen, die ukrainischen Staatsangehörigen Schutz und einen gesicherten Rechtsstatus innerhalb der Union gewähren. Bis heute haben sich rund 8,2 Millionen Ukrainer in ganz Europa registrieren lassen. Diese lobenswerten Maßnahmen haben zweifellos Leben gerettet. Doch mehr als ein Jahr später ist klar, dass sie die Ausnahme und nicht die Regel sind. Die EU nutzt den Krieg in der Ukraine, um ihr tödliches Grenzregime in Osteuropa und insbesondere die Rolle von Frontex weiter auszubauen, und verdoppelte ihre Bemühungen, Menschen fernzuhalten, die vor anderen Kriegen und Konflikten fliehen. Die Ukraine, die seit fast zwei Jahrzehnten als Grenzwächter der EU fungiert, spielt diese Rolle auch während des Krieges weiter. Im Vorfeld des Weltflüchtlingstages entlarven wir die Diskriminierung, den Rassismus und die Scheinheiligkeit Europas tödlicher Grenzpolitik im Rahmen des Krieges.
Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine flohen Millionen von Menschen vor dem Krieg über die Westgrenze des Landes in die EU. Die Reaktion der EU und ihrer Mitgliedstaaten war beispiellos – sie schufen Rechtswege, die es Millionen von Geflüchteten sofort ermöglichten, in der Union zu leben und zu arbeiten. Gleichzeitig überließen sie aber im Mittelmeer im Jahr 2022 mindestens 2367 Menschen dem Ertrinken – die tatsächliche Zahl liegt wahrscheinlich viel höher. Die EU und ihre Mitgliedstaaten hatten schon vor Jahren ihre Such- und Rettungsmissionen im Mittelmeer eingestellt und kriminalisieren zivilgesellschaftliche Organisationen, die diese Lücke zu füllen versuchen. Seit 2022 haben wir es mit einer Situation zu tun, in der die EU bereit ist, Millionen von Geflüchteten aus einem vom Krieg zerrütteten Land aufzunehmen, aber zugleich wild entschlossen ist, Flüchtende aus anderen vom Krieg zerrütteten Ländern fernzuhalten. So nahm Griechenland im März 2022 18.000 Geflüchtete aus der Ukraine auf, schob aber zugleich mindestens 540 Geflüchtete aus Afghanistan, Algerien, Bangladesch, Ägypten, Irak, Libyen, Marokko, Somalia, Syrien und Jemen illegal in die Türkei ab, was zum Tod eines vierjährigen Kindes führte. Zudem wurden in vielen Ländern Geflüchtete aus ihnen von der Regierung bereitgestellten Unterkünften verdrängt, um Platz für Ukrainer:innen zu schaffen. Polen ist vielleicht das drastischste Beispiel für die Scheinheiligkeit, die durch den Krieg sichtbar gemacht wurde. Geflüchtete aus der Ukraine wurden mit warmen Mahlzeiten, Decken und Unterkünften versorgt, während weiter nördlich entlang der polnisch-weißrussischen Grenze Menschen, die vor Kriegen in Afghanistan, Irak, Syrien und anderen Ländern flohen, von Hunden der Grenzpatrouille gejagt wurden oder in den ausgedehnten Wäldern Polens erfroren. In nationalen Debatten vieler EU-Staaten nutzten Politiker:innen die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter für die rassistisch motivierte Argumentation, dass Europa „voll“ sei. Einige plädierten dafür, nicht-ukrainischen Neuankömmlingen – mehrheitlich nicht-weiße Menschen – die Einreise zu verweigern oder sie abzuschieben. Der viel kritisierte "Ruanda-Plan" Großbritanniens, der darauf abzielt, "illegal" Eingereiste sofort nach Ruanda abzuschieben, ist Teil eines größeren Trends in ganz Europa, der schon lange vor dem Ukraine-Krieg begann: Die Anzahl der Abschiebungen nimmt zu und das internationale Flüchtlingsrecht wird zunehmend ausgehöhlt. Europäische Länder nutzten den Krieg in Europa als Vorwand, um ihre Grenzen zu befestigen und gleichzeitig einen Keil zwischen Geflüchtete zu treiben, indem sie die einen – ukrainische Staatsangehörige – als schutzwürdig einstuften und die anderen nicht, obwohl sie oft aus ähnlich vom Krieg zerrissenen Ländern kommen. Außerdem machten viele europäische Politiker:innen deutlich, dass Menschen, die vor der russischen Zwangsrekrutierung fliehen wollen, in der EU keine Zuflucht finden würden. Finnland, Polen und die baltischen Staaten errichteten neue Zäune und bauten die bestehende militarisierte Infrastruktur entlang der russisch-europäischen Grenze weiter aus, um Russen, die vor der Zwangsmobilisierung oder der Repressionswelle gegen Kriegsgegner fliehen, den Zugang zum EU-Asylsystem zu erschweren.
Diskriminiert werden nicht nur Menschen, die aus anderen Kriegen fliehen. Es gibt auch Hierarchien zwischen Flüchtenden aus der Ukraine. Die ukrainischen Behörden untersagten ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 Jahren sowie Transfrauen die Ausreise und bestanden darauf, dass sie sich den Kämpfen anschlossen. Nicht-ukrainische Staatsangehörige oder Personen, die sich vor dem Ausbruch des Krieges irregulär im Land aufhielten, stoßen auf erhebliche Hindernisse, wenn sie in der EU Schutz suchen. Eines der beschämendsten Beispiele für diesen zweigleisigen Ansatz ist die Tatsache, dass Dutzende nicht-ukrainischer Staatsangehörige in einem von der EU finanzierten Internierungslager in der Ukraine festgehalten wurden, während um sie herum der Krieg tobte. Dies ist ein klarer Verstoß gegen das internationale Flüchtlingsrecht und das humanitäre Völkerrecht, insbesondere gegen Artikel 58C des Zusatzprotokolls 1 zu den Genfer Konventionen. Das Internierungslager PTPI Volyn liegt weniger als 40 Kilometer von einem Militärflugplatz entfernt, der im März 2022 bei einem russischen Luftangriff bombardiert wurde. Trotzdem weigerten sich die Behörden, die 35 bis 45 Gefangenen aus Afghanistan, Bangladesch, Kamerun, Indien, Pakistan und Sudan freizulassen. Fünf Äthiopier wurden nach Rumänien verlegt, nachdem ihre Regierung intervenierte. Die meisten der ursprünglich Inhaftierten wurden erst auf internationalen Druck hin freigelassen. Allerdings führte die Tatsache, dass nicht alle einen legalen Status in der Ukraine hatten, dazu, dass einige von ihnen in Polen erneut eingesperrt wurden. Der Vorfall spricht für sich – zu einer Zeit, als Millionen ukrainischer Geflüchtete in die EU kamen, blieben 45 Nicht-Ukrainer, die verzweifelt vor demselben Krieg fliehen wollten, in einem von der EU finanzierten Haftzentrum eingesperrt. Dieses Haftzentrum ist auch heute noch in Betrieb. Bei den Inhaftierten handelt es sich nun hauptsächlich um politische Geflüchtete aus den umliegenden Ländern, die von der ukrainischen Regierung allein aufgrund ihrer Nationalität als verdächtig (pro-russisch) eingestuft werden. Dem Global Detention Project zufolge "ist es auch alarmierend, dass Russen, Tataren, Dagestaner, Aserbaidschaner, Armenier und Usbeken, von denen viele vor der Verfolgung durch russische Sicherheitsdienste geflohen sind und deren Leben und Sicherheit bei einer Abschiebung in ihre Länder extrem gefährdet wären, festgenommen, inhaftiert und mit der Abschiebung aus der Ukraine bedroht werden". Seit Mitte der 2000er Jahre finanziert die EU den Bau von Internierungslagern tief im ukrainischen Hoheitsgebiet. Dort werden Menschen eingesperrt, die auf dem Weg in die EU sind oder aus der EU abgeschoben wurden. Gemäß einem Abkommen aus dem Jahr 2008 muss die Ukraine "eine beträchtliche Anzahl irregulärer Migranten aus Drittländern aufnehmen, denen es gelungen ist, von der Ukraine aus in das Gebiet der EU einzureisen, nachdem sie die Ukraine als Transitland genutzt haben". 2005, drei Jahre vor der Unterzeichnung dieses Abkommens, hatte Human Rights Watch bereits auf den "anhaltenden Druck der EU auf die Ukraine“ hingewiesen, „beim Migrationsmanagement und der Durchsetzung von Grenzkontrollen zu helfen". Menschenrechtsorganisationen und internationale Medien beschuldigten die Lager der Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, einschließlich der Anwendung von Elektroschocks und körperlicher Gewalt gegen Inhaftierte. Trotz der glaubwürdigen Foltervorwürfe schloss die EU weiterhin bilaterale Abkommen mit der Ukraine um Menschen, die sich in Richtung der EU-Grenzen bewegen, abzufangen und festzuhalten.
Anfang 2022 startete Frontex die "Gemeinsame Operation Terra 2022" und entsandte Beamte des neuen ständigen Korps an Dutzende von Grenzübergängen in 12 EU-Staaten. Als sich der Krieg in der Ukraine verschärfte, weitete Frontex die Präsenz der Grenzbeamten und die Überwachung der EU-Grenzen zur Ukraine und zu Russland aus, insbesondere in Estland, Rumänien und der Slowakei. Nachdem Frontex aufgrund der Rolle der Agentur bei illegalen Abschiebungen in der Ägäis und bei anderen Menschenrechtsverletzungen viel Kritik auf sich gezogen hatte, bot der Krieg der Agentur die Gelegenheit, ihr Image aufzupolieren. Fotos von Frontex-Grenzbeamten, die Teddybären an ukrainische Kinder verteilten, wurden in den sozialen Medien geteilt, zusammen mit Kommentaren darüber, wie wichtig es ist, Familien auf der Flucht vor dem Krieg zusammenzuhalten. Die Agentur verfolgte einen selektiven Ansatz im Umgang mit Menschen, die aus der Ukraine fliehen. Während ukrainischen Staatsangehörigen die Einreise in die EU gestattet wurde, mussten diejenigen aus anderen Ländern, die sich bei Ausbruch des Krieges in der Ukraine befunden hatten, erhebliche Hürden überwinden, um vorübergehenden Schutz zu erhalten. Ihnen wurde eine "freiwillige Rückkehr" angeboten, obwohl in vielen Fällen eine Rückkehr in ihr Heimatland nicht in Frage kam. Im Juli 2022 eröffnete die EU ein Unterstützungszentrum für innere Sicherheit und Grenzschutzmanagement in Moldawien, um ihre Hilfe für das Land angesichts des russischen Einmarschs in die Ukraine zu koordinieren. Frontex spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle und schloss ein eigenes Abkommen ab, das die Entsendung von Beamten und die Bereitstellung von Ausrüstung für Grenzsicherung in Moldawien vorsieht, um "die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine zu unterstützen". Im Kleingedruckten des Abkommens werden auch die Stärkung der Grenzsicherheit und die Bekämpfung irregulärer Migration erwähnt. Es dauerte nicht lange, bis Grenzabschottung Vorrang vor der Bereitstellung humanitärer Hilfe erhielt. Mehr als ein Jahr später postet die Agentur keine Bilder mehr, auf denen Beamte Kuscheltiere an Kinder verteilen, sondern kehrt zu ihrer üblichen Arbeitsweise zurück. Frontex verkündete stolz, dass "im Jahr 2022 die gemeinsamen Teams von Frontex und der moldauischen Grenzpolizei hervorragende Ergebnisse erzielt … [und] eine 300-prozentige Steigerung bei der Aufdeckung irregulärer Migration im Vergleich zu 2021 verzeichnet haben". Während der Krieg in der Ukraine andauerte, verschob sich der Fokus der EU-Grenzpolitik auf die Abschottung der Grenzen, wobei das ursprüngliche Ziel der intensivierten Zusammenarbeit mit den Grenzstaaten in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Frontex nutzte derweil den Krieg, um das Einsatzgebiet der Agentur über die Grenzen der EU hinaus zu erweitern. Ende Januar 2023 begann die „Gemeinsame Operation Moldawien 2023", mit dem Ziel, „die nationalen Behörden bei der Grenzüberwachung und den Grenzkontrollen, aber auch bei der Sammlung von Informationen über Menschenschmuggelnetzwerke und der Identifizierung gefährdeter Gruppen zu unterstützen". Neben der moldawischen Operation unterzeichnete Frontex im Januar 2023 eine Vereinbarung mit der staatlichen Grenzwache der Ukraine über einen Zuschuss in Höhe von 12 Millionen Euro für den Kauf von Ausrüstung wie Patrouillenfahrzeugen und Uniformen. Neben der Stärkung der EU-Grenze zur Ukraine und Moldawien soll diese Unterstützung "auch den staatlichen Grenzschutzdienst darauf vorbereiten, in Zukunft möglicherweise gemeinsame Frontex-Operationen durchzuführen". Der stellvertretende Exekutivdirektor von Frontex, Uku Särekanno, stellte bei der Unterzeichnung der Finanzhilfevereinbarung klar, dass „die Unterstützung der Geschäftskontinuität unserer ukrainischen Kollegen angesichts der derzeitigen kritischen Lage an der Grenze sowohl für die Ukraine als auch für die EU von entscheidender Bedeutung ist“. Die Prioritäten sind klar: selbst inmitten eines Krieges muss an den EU-Außengrenzen alles seinen gewohnten Gang gehen, ungeachtet der menschlichen Kosten. 2022 erweiterte die EU auch das Mandat der 2005 begonnenen Mission zur Unterstützung des Grenzschutzes in der Republik Moldau und der Ukraine (EUBAM) und der 2012 begonnenen Beratungsmission (EUAM). Beide Missionen sind Teil der umfangreichen EU-Architektur zur Externalisierung der Grenzen, die durch bilaterale und multilaterale Abkommen gestützt wird. Durch diese Abkommen will die EU Drittstaaten mit Zuckerbrot und Peitsche dazu bringen, Migration in Gebieten weit außerhalb der europäischen Grenzen zu kontrollieren, damit Migrant:innen die Festung Europa niemals erreichen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten finanzierte die EU durch EUBAM die Ausbildung der ukrainischen Grenzwache, führte gemeinsame Grenzpatrouillen zwischen der EU und der Ukraine durch und stellte der Ukraine Ausrüstung für die Grenzabschottung zur Verfügung. EUAM erhielt das Mandat, die Ukraine bei der Reform ihres zivilen Sicherheitssektors zu beraten, einschließlich der Grenzabschottung. Seit 2007 spielt Frontex eine zentrale Rolle bei der Umsetzung bilateraler Abkommen zwischen der EU und der Ukraine. Das erweiterte Mandat von EUBAM und EUAM bedeutet, dass EUBAM-Beamten nun in Abstimmung mit Frontex direkt an Grenzpatrouillen teilnehmen dürfen. EUBAM wurden zusätzliche 15 Mio. EUR zur Verfügung gestellt, um mehr Personal einzustellen und die moldauische Grenzwache auszubilden und auszurüsten. Auch die Aktivitäten von EUAM wurden ausgeweitet; die Mission unterstützt nun vor allem die ukrainischen Grenzbehörden. Zudem gibt es in der Ukraine fortlaufende Projekte vom Internationalen Zentrum für Migrationspolitikentwicklung (ICMPD), die von der EU finanziert werden, wie z. B. das Projekt EU Support to Strengthening Integrated Border Management in Ukraine (EU4IBM). Im September 2022 lieferte die EU im Rahmen eines ICMPD-Projekts eine weitere Tranche Überwachungsausrüstung an die ukrainische Grenzwache, und Anfang 2023 stellte sie dem Land tragbare Röntgengeräte und Mini-Scanner für die Grenzüberwachung zur Verfügung. Auch die Republik Moldau verstärkte ihre Grenzabschottung und -bewachung durch deutsche Beiträge zu einem neuen ICMPD-Projekt. Außerdem organisierte CEPOL, die EU- Agentur für die Aus- und Fortbildung auf dem Gebiet der Strafverfolgung, nach der russischen Invasion einen Studienbesuch in Litauen zum Thema "illegale Einwanderung" für Polizist:innen aus der Ukraine und Moldawien und veranstaltete einen Kurs zu diesem Thema für ihre moldawischen Partner. Im Februar 2023 kamen auf Initiative Estlands und der USA Vertreter regionaler Geberländer in der estnischen Botschaft in Warschau zusammen, um sich darüber auszutauschen, wie die ukrainische Grenzwache am besten an die Anforderungen der EU angepasst werden kann. Der momentan noch in weiter Ferne liegende Beitritt der Ukraine zum Schengen-Abkommen würde zu noch höheren EU-Anforderung an Grenzabschottung und -kontrolle führen, wobei Mittel aus dem Instrument für Heranführungshilfe (IPA) für die Ukraine bereitgestellt werden würden. Das Outsourcing der EU-Grenzkontrolle ist keine neue Idee, sondern vielmehr Teil einer effektiven Strategie der Externalisierung von EU-Grenzen und sollte in diesem Kontext verstanden werden. In den Schlussfolgerungen zu einer Sondertagung im Februar 2023 verkündete der Europäische Rat, den Druck auf Drittländer zur Zusammenarbeit bei Abschiebungen und der Wiederaufnahme von Geflüchteten drastisch erhöhen zu wollen, wobei Frontex eine wichtige Rolle spielen soll. Die Schlussfolgerungen des Rates erwähnen die "Instrumentalisierung" der Migration "als Teil hybrider destabilisierender Maßnahmen", was als Versuch zu werten ist, das scharfe Vorgehen der EU gegen Migrant:innen zu rechtfertigen. Schon vor dem Krieg hatte die EU Russland und Weißrussland beschuldigt, Menschen auf der Flucht als „Waffen“ zu benutzen, weil sie viele von ihnen auf einmal an die polnische Grenze ließen – angeblich, um die EU und ihre Partnerländer zu "destabilisieren". Dieses Narrativ stellt schutzbedürftige Menschen zu Unrecht als "feindliche Waffen" dar. Es ist eine weitere Eskalation des Narrativs, dass Migrant:innen eine Bedrohung für Europa darstellten. Dieses untermauert seit langem die EU-Grenz- und Migrationspolitik und wird dazu benutzt, das Recht auf Asyl an bestimmten Orten effektiv auszuschalten – und auch, um die Forderungen nach immer mehr Grenzmilitarisierung zu rechtfertigen.
Der Krieg in der Ukraine dient der EU als Vorwand für eine Verschärfung der Grenzabschottung. Außerdem wurde er auch dazu genutzt, die weltweiten Rüstungsausgaben zu erhöhen, und zwar nirgends mehr als in Europa, wo innerhalb weniger Monate nach der Invasion zusätzliche Militärausgaben in Höhe von mehr als 200 Milliarden Euro angekündigt wurden. EU-Staaten lieferten große Mengen an Waffen und Munition in die Ukraine und erhöhten ihre Rüstungsbudgets, um die eigenen Bestände wieder aufzufüllen. Die Behauptung, diese Ausgaben seien notwendig, um Russland abzuschrecken, erscheint fadenscheinig, denn die 30 NATO-Länder zusammen gaben bereits vor dem Krieg 17-mal so viel wie Russland für ihre Militärs aus, was Russland allerdings nicht von der Invasion abhielt. Die drastische Militarisierung wird Spannungen und Ängste schüren, Instabilität und Unsicherheit erzeugen, bewaffnete Konflikte provozieren und verlängern, aktuelle und künftige Kriege anheizen – und immer mehr Menschen aus ihrer Heimat vertreiben, von denen viele wiederum Asyl suchen werden. Außerdem ist die Ukraine schon lange als Schwarzmarkt für Waffen bekannt. Es ist zu befürchten, dass Waffen, die in die Ukraine geliefert werden, letztendlich weiterverkauft werden und damit langfristig Kämpfe und Vertreibungen in anderen Regionen anheizen. Die Rüstungsindustrie ist der große Gewinner, denn die erhöhten Militärausgaben werden ihre Profite vervielfachen. Vorschläge, Transfers von Waffenkomponenten innerhalb der EU zu vereinfachen und die Beschränkungen für Waffenexporte in Nicht-EU-Länder zu lockern, würden den Weg für noch mehr Exporte von Grenzabschottungsausrüstung und Waffen in autoritäre und in Kriege verwickelte Länder ebnen. Der Krieg in der Ukraine führt nicht nur zu massiven Verlusten an Menschenleben und unermesslichem Leid und Zerstörung im ganzen Land. Seine Auswirkungen sind auch auf der ganzen Welt zu spüren. Die Versorgung vieler Länder mit Lebensmitteln und Treibstoff wurde stark beeinträchtigt, und die Preise schossen in die Höhe. Die massive Inflation, die durch die Profitgier der Unternehmen und die "Gierflation" der Aktionäre angeheizt wird, stürzt immer mehr Menschen in die Armut. Hinzu kommen die Umweltzerstörung und der Beitrag des Krieges zum Klimawandel, die beide weit über die Grenzen der Ukraine hinausreichen. Untersuchungen haben ergeben, dass das Militär insgesamt etwa 5% aller weltweiten CO2-Emissionen verursacht. Klimawandel und Umweltzerstörung werden mehr Menschen, vor allem im globalen Süden, dazu zwingen, aus ihrer Heimat zu fliehen. Dies wird wiederum zu Forderungen nach mehr Grenzabschottung führen, in einem endlosen Kreislauf, der durch den fanatischen Fokus der EU auf eine sicherheitsorientierte und militarisierte Migrationspolitik ausgelöst wird. Die Militär- und Sicherheitsindustrie, die sich bereits an der derzeitigen Ausgabenflut ergötzt, wird der Hauptprofiteur dieser zerstörerischen Politik der Festung Europa sein.
Verdeckt von der vergleichsweise großzügigen Aufnahme (weißer) Geflüchteter aus der Ukraine nutzt die EU den Krieg und seine Folgen, um ihre Grenzen immer stärker abzuschotten und zu militarisieren. Geflüchtete, die aus anderen Ländern und Konflikten fliehen, sowie Menschen auf der Flucht, die in der Ukraine inhaftiert sind oder dort lebten, haben die Hauptlast zu tragen. Die Reaktion der EU auf den Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass sie, wenn der politische Wille vorhanden ist, schnell und effektiv rechtliche Strukturen schaffen kann, die Geflüchteten ein sicheres Leben in der EU erlauben. Die Tatsache, dass sie dies für Geflüchtete aus anderen Kriegsgebieten nicht tut, offenbart die Diskriminierung, den Rassismus und die Scheinheiligkeit, die dem tödlichen Grenzregime der EU zugrunde liegen. Dieses Regime wurde mit der am 8. Juni zwischen den EU-Staaten erzielten Einigung über den Pakt zu Migration und Asyl weiter verschärft. Der Pakt senkt Schutzstandards, höhlt die Rechte von Menschen auf der Flucht aus und öffnet die Tür für mehr Inhaftierungen, illegale Abschiebungen und die Externalisierung von Grenzen. Wenn die EU wirklich daran interessiert wäre, die Grundursachen von Zwangsmigration zu bekämpfen und sie nicht nur jenseits ihrer Grenzen einzudämmen, wäre es vielleicht ein guter Anfang, die Beziehungen zu autoritären Regimen zu kappen und die Waffenexporte in Länder einzuschränken, die sich im Krieg befinden. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind nach internationalem Recht dazu verpflichtet, alle Asylsuchenden gleich zu behandeln, unabhängig von ihrer Hautfarbe oder ihrem Herkunftsland. Anstatt öffentliche Gelder für das Schüren von Kriegen und die Abschottung von Grenzen auszugeben, sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten stattdessen Gemeinden und lokale Netzwerke bei ihren Bemühungen unterstützen, Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, mit offenen Armen willkommen zu heißen.
First published in :
Mark Akkerman ist Forscher bei Stop Wapenhandel (Niederländische Kampagne gegen Waffenhandel) und ist aktiv an der TNI-Forschung zur Militarisierung der Grenzen beteiligt. Er hat auch über Themen wie Waffenexporte in den Nahen Osten, den privaten Militär- und Sicherheitssektor, Greenwashing im Waffenhandel und die Militarisierung von Maßnahmen gegen den Klimawandel geschrieben und Kampagnen durchgeführt.
Niamh Ni Bhriain koordiniert das TNI-Programm "Krieg und Befriedung", das sich auf den permanenten Kriegszustand und die Befriedung des Widerstands konzentriert. Sie hat einen LLM-Abschluss in internationalem Menschenrechtsrecht vom Irish Centre for Human Rights an der National University of Ireland Galway (NUIG).
Bevor sie zum TNI kam, lebte Niamh mehrere Jahre in Kolumbien und Mexiko und arbeitete mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und der UNO in den Bereichen Friedenskonsolidierung, Übergangsjustiz, Schutz von Menschenrechtsverteidigern und Konfliktanalyse. Sie verbrachte auch einige Zeit in Brüssel, wo sie bei europäischen Institutionen politische Lobbyarbeit im Zusammenhang mit dem Konflikt in Kolumbien betrieb.
Josephine Valeske ist Projektleiterin des TNI-Programms "Krieg und Befriedung". Sie hat einen MA-Abschluss mit Auszeichnung in Entwicklungsstudien vom International Institute of Social Studies und einen BA-Abschluss in Philosophie und Wirtschaft.
Unlock articles by signing up or logging in.
Become a member for unrestricted reading!