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Diplomacy

Meinung – Europäische Glaubwürdigkeit und die Illusion normativer Macht

Ursula von der Leyen und Emmanuel Macron – Veranstaltung „Choose Europe for Science“ an der Sorbonne – 2025

Image Source : Wikimedia Commons

by Joseph Black

First Published in: Jun.15,2025

Jun.23, 2025

Am 30. Mai 2025 hielt der französische Präsident Emmanuel Macron auf dem Shangri-La-Dialog in Singapur - dem wichtigsten Sicherheitsgipfel Asiens - eine Rede, die ungewöhnlich unverblümt ausfiel. Er warnte, dass der Westen - Europa und die USA - wegen der Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen an Glaubwürdigkeit zu verlieren drohe. Wenn diese Konflikte nicht mit Integrität und Konsequenz gelöst würden, würden die internationale Ordnung im weiteren Sinne und der Platz Europas darin ins Wanken geraten. Macrons Sorge galt nicht nur den taktischen Folgen der geopolitischen Instabilität, sondern einem tieferen Grund: dem symbolischen und normativen Gewicht, das Europa in globalen Angelegenheiten zu haben beansprucht. Seine Äußerungen markieren einen Wendepunkt, der die Kohärenzkrise im Herzen der Außenpolitik der Europäischen Union offenbart - und die wachsende Spannung zwischen der aufstrebenden Identität der EU als "normative Macht" und den harten Realitäten einer von der Realpolitik beherrschten Welt.

 

Seit mehr als zwei Jahrzehnten präsentiert sich die EU als wertebasierter Akteur, der seinen Einfluss nicht durch Zwang, sondern durch Diplomatie, Entwicklungshilfe, Rechtsharmonisierung und Multilateralismus geltend macht. Das Konzept der EU als "normative Macht" - berühmt geworden durch Ian Manners - basiert auf der Idee, dass Europa versucht, globale Angelegenheiten durch die Förderung von Normen wie Menschenrechte, Demokratie und Völkerrecht zu gestalten. Doch das gleichzeitige Auftreten von zwei symbolträchtigen und umstrittenen Kriegen - Russlands Einmarsch in der Ukraine und Israels Bombardierung des Gazastreifens - macht es der EU zunehmend schwer, dieses Selbstbild aufrechtzuerhalten, ohne der Heuchelei und selektiven Moral bezichtigt zu werden.

 

Nirgendwo wird dies deutlicher als in der Kluft zwischen Europas Reaktion auf die Ukraine und Gaza. In der Ukraine hat die EU eine der umfangreichsten und einheitlichsten Reaktionen in ihrer Geschichte gezeigt: Militärhilfe, Sanktionen, diplomatische Isolierung Russlands und offene Arme für ukrainische Flüchtlinge. Im Gazastreifen war die Reaktion zersplittert, uneinheitlich und - nach Meinung vieler - moralisch zweifelhaft. Einige europäische Staaten wie Irland und Spanien haben die Anerkennung der palästinensischen Staatlichkeit gefordert und die israelischen Aktionen verurteilt, andere haben gezögert oder ihre Unterstützung für Israel im Namen der Terrorismusbekämpfung und der Bündnispolitik verdoppelt. Dies ist im globalen Süden nicht unbemerkt geblieben, wo Europas normative Ansprüche zunehmend als hohl, wenn nicht gar lächerlich angesehen werden.

 

Macrons Reden über Glaubwürdigkeit spiegelt das Bewusstsein der Elite wider, dass Europas Legitimität außerhalb seiner Grenzen nicht mehr als selbstverständlich angesehen wird. Bei der von ihm beschriebenen Glaubwürdigkeitskrise geht es nicht nur um Diplomatie, sondern auch um Identität. Wenn die EU sagt, dass die territoriale Integrität in der Ukraine heilig ist, wie kann sie dann nichts tun, wenn dieselben Prinzipien anderswo mit Füßen getreten werden? Wenn die Union sagt, dass die Menschenrechte universell sind, kann sie dann zu den zivilen Opfern im Gazastreifen schweigen - oder sich nicht klar ausdrücken? Diese Fragen werden nicht von außenpolitischen Analysten gestellt, sondern in internationalen Foren, in den von Brüssel umworbenen asiatischen Hauptstädten und bei den Protesten, die die europäischen Straßen füllen. Je mehr die EU es versäumt, ihren Worten Taten folgen zu lassen, desto mehr erodiert ihre normative Marke.

 

Macrons Intervention hat aber noch eine weitere Ebene, die es zu beachten gilt. Seine Äußerungen zur "strategischen Autonomie" und dazu, nicht ins Kreuzfeuer der Rivalität zwischen den USA und China zu geraten, deuten darauf hin, dass Europa mit mehr als nur einer Glaubwürdigkeitskrise zu kämpfen hat. Es steht vor einer strategischen Entscheidung, die seine globale Rolle neu definieren wird: Soll es sich auf den transatlantischen Pakt der Nachkriegszeit stützen oder einen unabhängigeren Kurs einschlagen, der es ihm ermöglicht, in einer multipolaren Welt zwischen den Blöcken zu vermitteln. Macrons konsequentes Eintreten für strategische Autonomie (so umstritten sie auch sein mag) bedeutet, dass er erkannt hat, dass die EU ihre geopolitische Relevanz nicht unbegrenzt an Washington auslagern kann, insbesondere nach der Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus.

 

Dieses Dilemma wird durch die strukturellen Schwächen innerhalb der EU selbst noch verschärft. Die Außenpolitik der Union wird durch institutionelle Zersplitterung, nationale Interessen und einen auf Konsens basierenden Entscheidungsprozess gelähmt, der häufig zu Positionen des kleinsten gemeinsamen Nenners führt. Die anfängliche Einigkeit der EU in Bezug auf die Ukraine war zwar beeindruckend, doch die Gaza-Krise hat die Grenzen dieser Einigkeit aufgezeigt, wenn Werte mit politischen Bündnissen oder innenpolitischen Erwägungen kollidieren. Dies ist nicht nur eine Wahrnehmungskrise, sondern auch eine Krise der Kapazitäten. Kann die EU tatsächlich ein geopolitischer Akteur sein, wenn sich ihre Mitgliedstaaten nicht einmal darauf einigen können, was legitime Gewalt, Besatzung oder humanitäre Notwendigkeit ist?

 

Die Illusion der normativen Macht ist also nicht nur ein externes Markenproblem, sondern auch eine interne Governance-Herausforderung. Wenn Europa seine Glaubwürdigkeit nach außen bewahren will, muss es zunächst seine internen Widersprüche in Einklang bringen. Das bedeutet, das Gleichgewicht zwischen Werten und Interessen, zwischen Idealen und strategischen Erfordernissen zu überdenken. Dies kann auch ein gewisses Maß an institutioneller Kühnheit erfordern: eine tiefere Integration in der Außen- und Sicherheitspolitik, eine größere Rolle für den Hohen Vertreter oder eine Verlagerung hin zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in auswärtigen Angelegenheiten.

 

Gleichzeitig muss Europa auch die sich verändernde globale Landschaft anerkennen, in der es zu agieren versucht. In einer Welt, die nicht mehr von der westlichen Hegemonie dominiert wird, hängt der normative Einfluss der EU nicht nur von ihrer Kohärenz ab, sondern auch von ihrer Fähigkeit, den Akteuren in Asien, Afrika und Lateinamerika zuzuhören und sich mit ihnen auf Augenhöhe zu engagieren, anstatt sie als Empfänger europäischer Vorträge zu betrachten. Macrons Aufruf zu einer "positiven neuen Allianz" zwischen Europa und Asien, die sich der Vorherrschaft einer Supermacht widersetzt, deutet einen möglichen Weg nach vorn an. Ein solches Bündnis wird jedoch nur dann glaubwürdig sein, wenn Europa beweist, dass es bereit ist, seine Prinzipien auch dann anzuwenden, wenn sie unbequem sind - vor allem, wenn diese Prinzipien nicht nur von Gegnern, sondern auch von Verbündeten auf die Probe gestellt werden.

 

Letztendlich ist Macrons Rede ein Spiegel, der dem europäischen Projekt selbst vorgehalten wird. Sie spiegelt sowohl seine Bestrebungen als auch seine Ängste, sein Potenzial und seine Paradoxien wider. Ob Europa in der Lage ist, diese Krise zu überwinden und eine Außenpolitik zu schmieden, die sowohl prinzipienfest als auch strategisch ist, bleibt ungewiss. Klar ist jedoch, dass Glaubwürdigkeit nicht befohlen werden kann - sie muss verdient werden. Und in einer Ära zunehmender globaler Kontrolle wird dies mehr als Rhetorik erfordern. Es wird Entschlossenheit erfordern.

 

Der Text ist lizensiert unter einer Creative Commons CC BY-NC 4.0 Lizenz.

First published in :

E-International Relations

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Joseph Black

Joseph Black hat einen Juris Doctor der Universität Sydney und absolviert derzeit einen Master in Internationalen Angelegenheiten am King’s College London sowie einen PhD in Gender Studies an der Universität Chiang Mai. Er ist außerdem wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von New South Wales.

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