Diplomacy
Cyberdiplomatie und der Aufstieg des 'Globalen Südens'

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First Published in: Jun.10,2025
Jun.16, 2025
Am 24. September 2024, bei seiner Rede im gigantischen Internationalen Ausstellungszentrum von Kasan während des BRICS-Gipfels in Russland, pries der chinesische Präsident Xi Jinping nachdrücklich den „kollektiven Aufstieg des Globalen Südens [als] ein charakteristisches Merkmal der großen Transformation in der Welt“. Während er feierte, dass „die Länder des Globalen Südens gemeinsam auf die Modernisierung zugehen [was] monumental in der Weltgeschichte und beispiellos in der menschlichen Zivilisation“ sei, fügte Xi eilig hinzu, dass China nicht einfach Teil des Globalen Südens sei, sondern an seiner „Spitze“ stehe – und dass China den Globalen Süden „immer im Herzen tragen und seine Wurzeln im Globalen Süden behalten“ werde. Als sich aufstrebende Mächte der BRICS+-Gruppe in Kasan versammelten, um dem Westen unmissverständlich zu signalisieren, dass sie nicht bereit waren, Wladimir Putins vollständige diplomatische Isolation mitzutragen, war Chinas Botschaft klar: Als Großmacht werde man die Interessen des Globalen Südens weder ignorieren noch untergraben.
Der Aufstieg des Globalen Südens als zentrale Stimme in der Weltpolitik fällt zeitlich mit dem Aufkommen der Cyberdiplomatie als diplomatischem Feld zusammen. Dies ist kein Zufall, denn beide Entwicklungen hängen eng mit umfassenderen Veränderungen in der internationalen Ordnung zusammen – einem Wandel weg von einer US-geführten liberalen Weltordnung hin zu einer postliberalen Ordnung, deren Konturen noch im Entstehen sind, in der aber informelle Gruppierungen wie BRICS+ eine Schlüsselrolle spielen. Man könnte sogar argumentieren, dass gerade dieser Übergang zu einer neuen Ordnung Staaten dazu bewegt hat, diplomatisch zu Fragen des Cyberspace aktiv zu werden. Was einst eine Domäne des Globalen Nordens – und insbesondere der USA – war, ist nun ein umkämpftes Feld internationaler Aktivitäten.
In diesem Text untersuchen wir, wie der Globale Süden in diesen Wettbewerb eingetreten ist und wie er seine wachsende Präsenz bei der Gestaltung der Agenda dieses Bereichs artikuliert. Doch obwohl die Cyberdiplomatie im Globalen Süden zunehmend verankert wird, ist unklar, ob sie weiterhin eine kollektive Kraft bei der Gestaltung von Regeln und Normen für den Cyberspace bleibt – oder ob sich eher eine Tendenz entwickelt, dass jedes Land seinen eigenen Weg im Sinne seiner nationalen Interessen verfolgt.
Die Entwicklung der Cyberdiplomatie in einer postliberalen Welt
Cyberdiplomatie ist ein sehr junges Feld. Man könnte sagen, dass ihre Praxis erst Ende der 1990er-Jahre mit Russlands Vorschlag eines internationalen Vertrags zum Verbot elektronischer und informationsbezogener Waffen wirklich begann. Cyberdiplomatie – verstanden als „Einsatz diplomatischer Mittel und Funktionen zur Sicherung nationaler Interessen im Cyberspace“ (oder einfacher: „die Anwendung von Diplomatie auf den Cyberspace“) – ist noch jünger: Erste Schriften zu diesem Thema tauchten erst in den letzten 15 Jahren auf.
Sicherlich wurde das Internet in der Hochphase der US-geführten liberalen Weltordnung geboren und galt damals als ideales Mittel zur Förderung von Liberalismus, Freihandel und Informationsaustausch – mit minimalem staatlichem Eingriff und demokratischen Idealen. Cyberlibertäre lobten die Tugenden eines vom Staat unabhängigen Cyberspace, und westliche Regierungen – allen voran die USA – widersprachen dem nicht. Sie betrachteten das Internet als perfektes Instrument zur Förderung der globalen Macht der USA und zur Aufrechterhaltung der liberalen Hegemonie – „die Herrschaft über die Datenströme, wie einst Großbritannien über die Meere herrschte“. Das Internet war eingebettet in einen relativ unumstrittenen unipolaren geopolitischen Moment. Doch als die liberalen Träume eines freien Cyberspace mit dem Aufkommen eines staatenzentrierten Gegenmodells von China und Russland zu bröckeln begannen, entwickelte sich Cyberdiplomatie sowohl als Reaktion auf als auch als treibender Faktor im andauernden Kampf um den Cyberspace.
Zwei Faktoren lassen sich klar als Ursprung dieses Feldes benennen. Erstens die wachsende Erkenntnis, dass der Cyberspace zunehmend mit Geopolitik und Geoökonomie verwoben ist – mit all seinen Risiken, aber auch Chancen. Fälle wie Moonlight Maze, die Angriffe auf Estland im Jahr 2007 oder Stuxnet halfen dabei, das Problembewusstsein von Entscheidungsträgern weltweit zu schärfen.
Zweitens erforderte der tiefgreifende Wandel der internationalen Ordnung die Cyberdiplomatie als Brückenschlag – sowohl zur Eindämmung von Großmachtrivalitäten als auch zur Wahrung der Stabilität des Cyberspace und der digitalen Wirtschaft. Private Unternehmen – bisher Nutznießer eines offenen, deregulierten Internets – mussten nun auch selbst aktiv werden, um ihre Interessen und Profite zu schützen.
Diese beiden miteinander verknüpften Faktoren prägten die Diskussionen rund um die Cyberdiplomatie über weite Teile der 2000er Jahre. Der anfängliche Fokus lag stark auf Rüstungskontrolle, was sich auch in der Zusammensetzung der ersten Runden der Group of Governmental Experts (GGE) widerspiegelte – einem Forum, das von der UN-Generalversammlung eingerichtet wurde, um die Rolle von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in der internationalen Sicherheit zu diskutieren. Auch wenn Vertreter aus Ländern des Globalen Südens bereits an der ersten Sitzung im Juli 2004 teilnahmen, war die Debatte stark von den Großmächten geprägt.
Mit dem Fortschreiten der Diskussionen und der Institutionalisierung der GGE begannen einige Staaten außerhalb des Kreises der ständigen Mitglieder sich aktiver einzubringen. Dies fiel zeitlich zusammen mit der allmählichen Einrichtung von Cyberdiplomatie-Stellen in Außenministerien weltweit. Das Feld wurde zunehmend professionalisiert – immer mehr Staaten erkannten, dass diese Themen über die klassische Machtpolitik hinaus Bedeutung hatten. Länder wie Südafrika, Brasilien oder Kenia begannen, Fragen in den Mittelpunkt zu stellen, die für größere Gruppen von Staaten relevant waren – insbesondere im Bereich des Cyber Capacity Building. Dies geschah nicht nur in der GGE, sondern auch in anderen multilateralen oder Multi-Stakeholder-Prozessen und Konferenzen – etwa dem World Summit on the Information Society (WSIS), der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), dem Internet Governance Forum (IGF) oder der International Telecommunication Union (ITU).
Die Einrichtung einer neuen Open-Ended Working Group (OEWG) im Ersten Ausschuss der UN (nach einem konfliktreichen diplomatischen Prozess) hatte einen wichtigen Effekt: Die Diskussionen wurden geöffnet – für die gesamte UN-Mitgliedschaft, und auch für nichtstaatliche Akteure, die nun beobachten und teilnehmen durften. Darüber hinaus richtete die UN 2022 ein Ad-hoc-Komitee (AHC) zur Ausarbeitung eines Cybercrime-Übereinkommens ein, das im Dezember 2024 per Konsens von der UN-Generalversammlung angenommen wurde – und ebenfalls allen UN-Mitgliedern die Mitwirkung ermöglichte. Diese Öffnung der Prozesse brachte viele Staaten, besonders aus dem Globalen Süden, erstmals ernsthaft mit dem Feld in Berührung – und zwang sie dazu, sich aktiv mit Diskussionen auseinanderzusetzen, die zuvor als Domäne der Großmächte galten. Die Afrikanische Gruppe und die G77 konnten sich nun aktiv einbringen – mit regelmäßigen Stellungnahmen und Beiträgen.
Konzeptualisierung des Globalen Südens in der Cyberdiplomatie
Mit dem Fortschreiten der Cyberdiplomatie begannen politische Entscheidungsträger und Wissenschaftler gleichermaßen, die globale Cyber-Governance als in drei Hauptblöcke unterteilt zu verstehen. Die Verteidiger des Status quo, angeführt von den USA und (meist westlichen) gleichgesinnten Staaten, konzentrierten sich auf die Förderung liberaler Werte und unverbindlicher Normen, die durch einen Multi-Stakeholder-Ansatz sowie durch die Einhaltung bestehender Grundsätze des Völkerrechts geprägt waren, lehnten jedoch tiefgreifende Veränderungen in der Verwaltung des Cyberspace ab. Eine revisionistische Gruppe, angeführt von Russland und China, setzte sich für ein neues, verbindliches internationales Abkommen und eine multilaterale Governance ein, mit dem Ziel, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten – nicht zwingend zur Förderung liberaler Werte.
Angesichts dieser Pattsituation wurde die Rolle und der Einfluss einer Gruppe von Staaten, die als „Swing States“ oder „Digital Deciders“ bezeichnet werden, als entscheidend für die Zukunft des Cyberspace anerkannt – besonders deutlich in einem ausführlichen Bericht des Think-Tanks New America aus Washington, D.C. von 2018. Diese Gruppe besteht größtenteils aus aufstrebenden Mächten des Globalen Südens, darunter Indien, Indonesien, Brasilien, Mexiko und Südafrika. Sie gelten als Länder, die sich noch keinem der beiden Pole eindeutig zugewandt haben – einige sind unentschieden, andere suchen einen dritten Weg. Angesichts dieser Gruppierungen stellt sich die Frage, wie der Globale Süden in die derzeitigen Vorstellungen von Cyberdiplomatie passt – oder ob er überhaupt als einheitliche Gruppierung betrachtet werden kann.
Der Begriff „Globaler Süden“ wurde vielfach kritisiert – wegen der Heterogenität der Länder, die er beschreibt, und seiner geografischen Ungenauigkeit (viele Länder des Globalen Südens liegen nicht im geographischen Süden). Fairerweise war der Begriff nie als geografisch präzise Kategorie gedacht, sondern wurde vielmehr während des Vietnamkriegs als konzeptionelle Bezeichnung für eine Gruppe von Ländern geprägt, die unzufrieden mit der politischen und wirtschaftlichen Ausbeutung durch den Globalen Norden waren. In diesem Sinne ist der Globale Süden eine „Stimmung“, ein Symbol für Entwicklungsländer, die in einer zunehmend umkämpften Welt ihren eigenen Weg suchen.
Der Krieg in der Ukraine hat diese Bruchlinien noch verstärkt, da der Westen überrascht war über die Weigerung des Globalen Südens, eine klare Position gegen die unverhohlene russische Aggression in Europa einzunehmen. Die Entwicklungsländer sahen das jedoch anders: In einer internationalen Ordnung, die lange auf Rassismus und Ungleichheit basierte, war die Erwartung, dass diese Länder in „kleinliche Streitereien“ Partei ergreifen sollten, während dieselben westlichen Länder selbst „ähnlich gewalttätige, ungerechte und undemokratische Interventionen – von Vietnam bis Irak“ durchgeführt hatten, ein Schritt zu weit.
Der Ukraine-Krieg hat jedoch auch geholfen, die Strategien zu klären, die Länder des Globalen Südens verfolgen, um dieses strategische Ziel zu erreichen: ideologische Neutralität oder Agnostizismus, selektive Beteiligung an Normen und Regeln, sowie vielfältige bilaterale und minilaterale Partnerschaften mit gleichmäßiger Distanz zu den Großmächten. Diese drei Ansätze verdeutlichen die unterschiedlichen Formen von Handlungsspielräumen, die Entwicklungsländer in der internationalen Ordnung auf Basis ihrer eigenen Interessen und dem Streben nach strategischer Autonomie ausüben. Was sich mit dem Einschlag russischer Bomben in den Straßen Kyjiws zeigte, war jedoch bereits vorher in ihren Interaktionen in der Cyberdiplomatie sichtbar.
Erstens hat ein Großteil des Globalen Südens sich geweigert, zu den umstrittenen Streitpunkten, über die sich die Großmächte streiten, eine klare Haltung einzunehmen – etwa ob die Governance des Cyberspace staatenzentriert oder durch neue Regeln oder bestehendes Völkerrecht geregelt sein sollte. Während der Verhandlungen in der UN-Arbeitsgruppe (OEWG) und im Ad-hoc-Ausschuss (AHC), bei denen Russland und China mit den USA und deren Verbündeten über kontroverse Textvorschläge stritten, verfolgten die meisten Entwicklungsländer eine neutrale Haltung – sie unterstützten oder lehnten keine dieser Vertragsbestimmungen explizit ab. (Es gibt natürlich Ausnahmen: Eine Analyse der Abstimmungsmuster zeigt, dass sich etwa Iran und Nordkorea klar auf die Seite Russlands und Chinas gestellt haben, während sich einige kleinere Entwicklungsländer eher in Richtung der USA bewegt haben.)
Zweitens zeigte sich eine selektive Beteiligung dort, wo Sicherheits- oder Entwicklungsinteressen direkt betroffen sind. So forderte die G77+China in ihrer gemeinsamen Eingabe zum Global Digital Compact (GDC) der UN gerechte grenzüberschreitende Datenflüsse, die Entwicklungsgewinne maximieren sollen. Der GDC ist der erste umfassende Rahmen der UN für globale digitale Zusammenarbeit. Die G77, die schon lange vor der Vereinnahmung des Multi-Stakeholder-Modells durch privatwirtschaftliche Akteure zum eigenen Profit auf Kosten der Entwicklung gewarnt hatte, betonte zudem die Notwendigkeit eines „multilateralen und transparenten Ansatzes für die digitale Governance, um ein gerechteres, inklusiveres und effektiveres Regierungssystem zu ermöglichen“.
Drittens sind Länder des Globalen Südens Technologiepartnerschaften über politische und ideologische Grenzen hinweg eingegangen. US-Versuche, chinesische Hardware-Anbieter wie Huawei und ZTE aus den technologischen Infrastrukturen mehrerer Länder des Globalen Südens auszuschließen – unter Verweis auf angebliche Spionage – wurden mitunter zurückgewiesen, angesichts der Überwachungspraktiken und des Rufes der „Five Eyes“-Staaten, selbst hochrangige Personen auszuspähen. Durch ideologische Neutralität konnten diese Länder Beziehungen zu Großmächten unterschiedlichster Couleur aufrechterhalten und pragmatische technologische Partnerschaften pflegen.
Wird der Globale Süden aufsteigen?
Der Aufstieg des Globalen Südens als einflussreiche Kraft in der Cyberdiplomatie hängt jedoch von drei Faktoren ab:
Kann er eine ideologische Konsistenz bei Entwicklungs- und Menschenrechtsfragen wahren – auch hinsichtlich der Internet-Governance im eigenen Land?
Wird es gelingen, mit mehreren Partnern zusammenzuarbeiten, ohne dem Druck aus Washington oder Peking zu erliegen?
Werden aufstrebende Mächte des Globalen Südens (wie Indien, Brasilien und Indonesien) die Interessen der größeren Entwicklungsländer vertreten – oder lediglich die globale Governance im Sinne ihrer eigenen nationalen oder regierungsbezogenen Interessen gestalten?
Da Cyberdiplomatie ursprünglich als Spielwiese der Großmächte entstand, ermöglicht die Betrachtung aus Perspektive des Globalen Südens einen erweiterten Blick auf Cyber-Governance – über (Cyber-)Sicherheitsfragen hinaus, hin zu wirtschaftlicher Entwicklung und Identität (unter Berücksichtigung von Rassismus, Geschlecht und Kolonialgeschichte). Es eröffnet eine Perspektive jenseits der Dynamiken des Großmächte-Wettbewerbs.
Analytisch ist es hilfreich zu verstehen, wie diese Staaten sich positionieren und ihr Handeln im Namen einer größeren Gruppe rechtfertigen. Bei näherer Betrachtung sieht man sowohl kollektive Bewegungen als auch das Bestreben der Großmächte – darunter auch China – den Entwicklungsländern ihre Weltsicht schmackhaft zu machen. Der Globale Süden bleibt ein relevantes Konstrukt, das die Stimmungslage der Entwicklungsländer in der geopolitischen Auseinandersetzung um Technologie und Cyberfragen einfängt. Seine „große Stärke“ wird nicht aus dem Pendeln zwischen Washington und Peking entstehen, auch nicht aus der Steuerung durch Neu-Delhi oder Brasília. Sie wird vielmehr darin bestehen, standhaft zu bleiben – im Dienste der eigenen Sicherheits- und Entwicklungsinteressen im Cyberspace. Und während dieser Weg beschritten wird, bleibt abzuwarten, ob der Begriff „Globaler Süden“ als analytisches Konzept relevant bleibt – oder ob er neuen Bezeichnungen weichen muss, die die Nuancen und Unterschiede der Entwicklungsländer in der internationalen Cyberordnung besser erfassen.
Der Text dieser Arbeit steht unter einer Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC 4.0).
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André Barrinha ist Dozent für Internationale Beziehungen an der Universität Bath
Arindrajit Basu ist Doktorand an der Universität Leiden und Non-Resident Fellow für Planetary Politics, New America.
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