Diplomacy
Macrons Kampf um sein europäisches Erbe
Image Source : Shutterstock
Subscribe to our weekly newsletters for free
If you want to subscribe to World & New World Newsletter, please enter
your e-mail
Diplomacy
Image Source : Shutterstock
First Published in: Apr.26,2024
Jun.03, 2024
Am Ende war es eine typische Macron-Rede, die Regierungsmitglieder und Abgeordnete, Journalisten und Studenten am Donnerstagvormittag in der Pariser Sorbonne hörten. Zu lang war sie, das gestand der Präsident nach etwa einer Stunde selbst ein. Auch zu kompliziert, so waren sich viele Zuhörer einig: Seit fast sieben Jahren kämpfen Übersetzer, Analysten und häufig auch Macrons eigene Berater mit den Metaphern und den verschachtelten Drei-, Vier- oder Fünf-Punkte-Plänen des Präsidenten, dem zuletzt in Frankreich häufig vorgeworfen wurde, seine Mitbürger nicht mehr zu erreichen. Und trotzdem war es eine Rede, wie sie wohl kein amtierender deutscher Spitzenpolitiker halten kann. Eine emotionale Rede, mal wütend und enttäuscht, dann wieder zuversichtlich, manchmal mitreißend. Eine mutige Rede, mit einem Feuerwerk an Analysen und Vorschlägen, die viele drängende Fragen für die Zukunft der EU adressierte. Zwischen der Verteidigungspolitik, dem grünen und digitalen Umbau der Wirtschaft und der internationalen Handelspolitik, dem Schutz der Grenzen und der Asylpolitik und den Gefahren für die liberalen Demokratien des Westens, bestimmte dabei ein zentrales Anliegen diese lange Rede: die Souveränität der EU – ein Echo der ersten Sorbonne-Rede von 2017, das die Obsession des jüngsten und pro-europäischsten Präsidenten der französischen Geschichte geblieben ist.
Gleich zu Beginn maß Macron sich an seinen eigenen Versprechen, insbesondere in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wo die Stärkung der Souveränität der EU am dringendsten notwendig ist. Eine EU-Eingreiftruppe schlug er 2017 vor, einen Verteidigungshaushalt, eine Doktrin für die Streitkräfte und das Fördern einer strategischen Kultur. Die Entwicklungen der Weltpolitik haben ihm seitdem Recht gegeben, Russlands Invasion der Ukraine lässt seit 2022 nicht nur Deutschland sicherheitspolitisch „blank“ dastehen. Doch Macrons Vorschläge hat die EU trotzdem nicht umgesetzt und so könnte die Sicherheit von 450 Millionen EU-Bürgern im November erneut von einigen Tausend Wählern in US-Swing-States abhängen. Folgt man Macron, hat es seit 2017 aber Erfolge gegeben, auf denen nach der Europawahl aufgebaut werden müsse. In der Sicherheitspolitik zählt er dazu die Europäische Interventionsinitiative (E2I), der sich seit 2017 13 EU-Staaten angeschlossen haben. Echte operative Wirkung konnte die Initiative nur im Rahmen der Spezialkräfte-Mission „Takuba“ entfalten, die ab 2020 unter französischer Führung im Sahel terroristische Gruppen bekämpfte. Berlin verweigerte die Beteiligung und Takuba endete nach wenigen Monaten. Der Einsatz konnte zudem nicht verhindern, dass die EU im Sahel von Russland und anderen Staaten verdrängt wurde, massiv an Einfluss verloren hat. Wenn Takuba als Erfolg dargestellt wird, ist es um die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU schlecht bestellt.
Wirklich erfolgreich war hingegen aus französischer Sicht die Initiative zur Stärkung der europäischen Souveränität in der Wirtschaftspolitik, die Macron in seiner Rede erwartbar hervorhob. Dass sich die Bundesregierung 2020 im Kontext der Covid-Pandemie auf die Aufnahme gemeinsamer EU-Schulden einließ, gilt in Paris über Parteigrenzen hinweg als größter europapolitischer Sieg des Präsidenten seit 2017. Macron erinnerte daran, dass der damalige Finanzminister und heutige deutsche Bundeskanzler, Olaf Scholz, in einem Interview sogar von einem „Hamilton-Moment“ sprach, in Anspielung auf einen permanenten gemeinsamen EU-Haushalt. Der bleibt für Macron die Voraussetzung für echte EU-Souveränität und damit ein Ziel der verbleibenden drei Jahre seiner Präsidentschaft. In Frankreich ist man zuversichtlich, die Bundesregierung in den kommenden Jahren zu diesem Schritt bewegen zu können. In seiner Rede berief sich Macron mehrmals auf einen Bericht des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten, Enrico Letta, der vor kurzem veröffentlicht wurde, Vorschläge zur Stärkung des EU-Binnenmarktes und gemeinsamer Investitionen enthält und die Agenda der nächsten EU-Kommission beeinflussen dürfte. Während Macron seine Europa-Rede hielt, spekulierten zudem in Brüssel Journalisten über die Unterstützung des französischen Präsidenten für Mario Draghi, eines weiteren ehemaligen italienischen Regierungschefs, der Ambitionen auf die Kommissionspräsidentschaft hegt. Die amtierende deutsche Präsidentin, Ursula Von der Leyen, wurde in Paris mit keinem Wort erwähnt. Auch Draghi wird Empfehlungen zur Steigerung der EU-Wettbewerbsfähigkeit vorlegen – ganz im Sinne Macrons.
Die gemeinsame Verschuldung wird in den kommenden Monaten unweigerlich erneut zu Konflikten zwischen Deutschland und Frankreich führen. Vielleicht lobte Macron die Beziehung mit Deutschland auch deshalb auffällig häufig, unterstrich den Wert des 2019 unterzeichneten Aachener Vertrags, die Kooperation während der Pandemie und zwei gemeinsame Rüstungsprojekte, die zuletzt Fortschritte gemacht haben. Einige Spitzen setzte der französische Präsident aber trotzdem. So unterstrich er die Bedeutung der Atomkraft für die Energieversorgung der EU, lobte französische Initiativen zur Bildung einer „Atom-Allianz“ auf EU-Ebene und forderte den Ausbau des „Europa des Atoms“. Überraschender als dieser alte Konflikt waren seine Anspielungen auf die Cannabis-Legalisierung der Ampel-Koalition. Einige Partner, so Macron, hielten die Liberalisierung der Drogenpolitik für richtig, die aus seiner Sicht falsch sei. Vielmehr müsse die Autorität des Staates gestärkt werden.
Abseits dieser Sachthemen wurden in der Sorbonne-Rede auch die großen Bruchlinien des deutsch-französischen Verhältnisses deutlich: Immer wieder unterstrich Macron die Gefahr für die EU, zum „Vasallen“ der USA zu werden, ihre unabhängige Stimme in der Welt zu verlieren und zu einem „Zipfel des Westens“ zu verkommen. Die Ära des freien Handels und der Globalisierung ende, so Macron, und bemühte den in Frankreich dieser Tage vielzitierten Dreiklang der europäischen Abhängigkeiten, die meist besonders auf Berlin zielen: vom russischen Gas, den chinesischen Absatzmärkten und den US-Sicherheitsgarantien. Sowohl die USA als auch China ignorierten zunehmend internationale Regeln, an die sich lediglich die EU halte. Die Union agiere „naiv“, setze die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Industrien aufs Spiel und drohe dabei, an sich selbst zu scheitern. Nicht nur in Hinsicht auf die Wirtschaft zog sich aber eine spürbare Abstiegsangst durch die Rede Macrons. Auch die alte Angst der Europäer, insbesondere der Franzosen, kulturell von den USA dominiert zu werden, blitzte vielfach auf. Um die Vielsprachigkeit der Jugend Europas, die Macron 2017 beschworen hatte, steht es schlecht. Trotz Brexit dominiert das Englische in den EU-Institutionen in Brüssel. Daran dürfte sich auch in Zukunft nichts ändern, im Gegenteil. Dank Netflix und TikTok spricht die Jugend überall in Europa dieselbe Sprache. Die EU, so Macron, kontrolliere diesen digitalen Raum zudem kaum noch, produziere keine Inhalte. Schlimmer noch als die Verkümmerung der Vielsprachigkeit sei, dass die EU keine positiven Erzählungen mehr anbiete. Hier klangen für Beobachter der französischen Politik deutlich die Sorgen an, die Macron angesichts der Umfrageergebnisse für die Europawahl umtreiben. Sein Parteienbündnis liegt weit abgeschlagen hinter der Rechtsaußen-Partei Rassemblement National, deren 28-Jahre alter Spitzenkandidat Jordan Bardella besonders bei Erstwählern und in den sozialen Medien sehr beliebt ist. Die zweite Sorbonne-Rede wurde deshalb auch als Wahlkampfhilfe Macrons für die Spitzenkandidatin seiner Partei bei der Europawahl, Valérie Hayer, erwartet. Doch Macron beschränkte sich auf wenige Anspielungen, wohl auch, weil er im Wahlkampf erstmals als Belastung für seine Partei wahrgenommen wird.
Macron dürfte während der Vorbereitung seiner Rede mehr als einmal an die erste Sorbonne-Rede von 2017 zurückgedacht haben. Die neuerliche Rede läutet bereits den Anfang seines Abschieds als Präsident Frankreichs ein. Rund drei Jahre bleiben ihm, um aus den optimistischen Versprechungen zu Beginn seiner Amtszeit ein europapolitisches Erbe zu formen, das seine Präsidentschaft überdauert. Macron zitierte zum Ende seiner Rede Hannah Arendt: „Der einzige Weg, die Zukunft zu beeinflussen“ bestehe darin, „Versprechen zu machen und diese einzulösen“. Versprochen hat Macron seit 2017 viel. Denn egal, was man sonst von ihm hält: Er ist ein Visionär, wie es ihn oder sie im Kanzleramt seit vielen Jahren nicht mehr gegeben hat. Vielleicht wünschte sich der große Europäer Wolfang Schäuble deshalb eine Rede Macrons als Würdigung seines politischen Lebenswerks. Den zweiten Teil des Arendt-Zitates jedoch, die Einlösung der Versprechen, bleibt Macron der EU in vielen Bereichen schuldig. Macron weiß das. Und so wirkte er in Teilen seiner Rede wie ein Getriebener, einer, dem die Zeit davonläuft. Dazu passte auch ein weiteres Zitat, das Macron zum Ende seiner Rede platzierte und das die größte aller Fragen aufwirft, deren Antwort in Frankreich alles andere als sicher ist: In Anlehnung an den berühmten Vortrag Ernest Renans, gehalten auch an der Sorbonne, im Jahr 1882, unter dem Titel: „Was ist eine Nation?“, forderte Macron, die gleiche Wesensfrage müsse sich die EU stellen. Gelingt ihm dieser Impuls in den kommenden drei Jahren, hätte die EU wieder ein Angebot, auch für die jungen Zuhörer seiner Rede. Und Macron würde sein großes europapolitisches Versprechen eingelöst haben.
First published in :
Jacob Ross ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der DGAP, wo er sich auf Frankreich und die deutsch-französischen Beziehungen konzentriert. Er war im Juni 2021 zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter in das Programm eingestiegen. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Parlamentarischen Versammlung der NATO in Brüssel tätig. Erfahrungen im deutsch-französischen Kontext sammelte er bereits während seiner Tätigkeit im französischen Außenministerium und während seiner Tätigkeit als parlamentarischer Assistent von Sabine Thillaye, Vorsitzende des Europaausschusses der französischen Nationalversammlung. Ross erhielt auch den Großteil seiner akademischen Ausbildung in Frankreich: zunächst im Rahmen eines deutsch-französischen Doppelabschlussprogramms am Institut für Politikwissenschaft (IEP) in Lille und später am IEP in Paris und an der Ecole nationale d'École. Verwaltung (Ena) in Straßburg. Er studierte außerdem an der School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University in Bologna und erwarb gleichzeitig einen Master-Abschluss in internationalen Beziehungen und Wirtschaft.
Unlock articles by signing up or logging in.
Become a member for unrestricted reading!